Vergesellschaftung von Katzen: Der Mythos Rangordnung

Vergesellschaftung von Katzen: Mythos Rangordnung

Wenn Du gerade in der Vergesellschaftung von zwei oder mehreren Katzen bist, oder Dir überlegst, ob eine Zweitkatze zu Deinem Stubentiger passt, bist Du vielleicht schon über den Begriff „Rangordnung“ gestolpert. Und wenn Du wie ich mal eine Runde durch die Google-Suchergebnisse drehst, findest Du da auch heute noch erstaunlich viel Unsinn über angebliche Hierarchien bei Katzen.

Zum Beispiel wurden mir bei der Google-Suche zur Vergesellschaftung von Katzen auf der ersten Seite diese Sätze angezeigt:

„Streitereien sind notwendig, um die Rangfolge festzulegen, zu prüfen und gegebenenfalls zu strukturieren.“ 

„Die Katzen müssen die Rangordnung finden, ohne geht es nicht. So lang kein Blut fließt, alle Beteiligten essen, trinken und aufs Klo gehen (die Rede ist hier von den Katzen!) ist alles gut!!!“

Ernsthaft

Ganz ehrlich – da fehlen mir die Worte. Hier wird suggeriert: „Solange keiner verblutet, ist es doch halb so wild.“ Was für ein Maßstab soll das bitte sein?! Muss es wirklich erst blutige Nasen geben, damit wir merken, dass etwas schiefläuft? 

Ich bin Katzenverhaltensberaterin und bekomme regelmäßig Anfragen von Halter:innen, bei denen die Vergesellschaftung komplett eskaliert ist. Oft steckt hinter dem Desaster ein gut gemeinter, aber fataler Glaube an genau solche veralteten Theorien. Also lass uns mal gemeinsam aufdröseln, warum der Mythos von der Rangordnung bei Katzen so schädlich ist und was die Wissenschaft wirklich über das Sozialverhalten unserer Stubentiger sagt.

Die Idee, dass Tiere eine feste Rangordnung haben, stammt noch aus Zeiten, in denen die Menschen Tierverhalten durch eine sehr eingeschränkte Brille betrachtet haben. Stark vereinfacht, mit viel Projektion und wenig echter Beobachtung. Oft wurde das Verhalten von Wölfen in Gefangenschaft als Modell genommen, um zu erklären, wie soziale Gruppen funktionieren. Daraus entstand das Konzept vom „Alpha-Tier“. 

Das Problem daran? Es ist schlicht falsch. Schon bei Wölfen wurde diese Theorie längst widerlegt. In freier Wildbahn leben Wölfe nicht in starren Hierarchien, sondern in Familienverbänden. Kein Wolf „unterwirft“ sich einem anderen, nur weil das Rudel sonst ins Chaos stürzt. 

Und Katzen? Die sind keine kleinen Wölfe. Katzen sind vor allem eines: flexibel. Sie passen sich ihrer Umgebung an. In freier Wildbahn (z. B. rund um Bauernhöfe) bilden sie oft lockere soziale Gruppen – meist rund um Futterquellen. Wer sich gut versteht, verbringt Zeit miteinander. Wer nicht, geht sich aus dem Weg. 

Das heißt: Es gibt keine festen „Ränge“, sondern dynamische Beziehungen. Und das ist ein riesiger Unterschied! 

Katzen sind von Natur aus eher Einzelgänger. Das heißt nicht, dass sie nicht sozial sein können – im Gegenteil. Vor allem in guten Bedingungen (genug Ressourcen, Platz, Rückzugsmöglichkeiten) bilden sie lose soziale Gruppen. Zum Beispiel auf Bauernhöfen oder in Hauskatzenkolonien.

Aber: Diese Gruppen funktionieren nicht nach starren Rangordnungen. Katzen leben in dynamischen, flexiblen Beziehungen. Wer mit wem gut kann, wer sich aus dem Weg geht, wer mal zusammen liegt und wer nicht – das ändert sich ständig. Beziehungen sind individuell. Es gibt Freundschaften, Zweckgemeinschaften, Abneigungen – alles, aber keine festgelegte Pyramide.

Einer der schlimmsten Tipps, den ich immer wieder lese, ist: „Lass die das unter sich regeln.“ Klingt erstmal logisch, oder? Die machen das schon. Nur: Wenn Katzen auf engem Raum aufeinandertreffen und sich nicht aus dem Weg gehen können, regeln sie eben gar nichts – zumindest nicht friedlich.

Was sie dann „regeln“, ist im schlimmsten Fall ein andauernder Stresszustand. Vielleicht sogar Mobbing. Vielleicht hat eine Katze keine Rückzugsmöglichkeiten und fühlt sich dauerhaft bedroht. Vielleicht traut sie sich nicht mal mehr zum Fressen oder aufs Klo, weil die andere Katze sie ständig abfängt oder beobachtet.

Aber klar: Wenn man das Ganze unter dem Label „Rangordnung klären“ laufen lässt, klingt das fast legitim, oder? 

Tatsächlich ist es so, dass Katzen in Mehrkatzenhaushalten ständig aushandeln, wer wann wo sein darf, wer an welchen Ressourcen interessiert ist, wie man miteinander umgeht. Das ist kein starres System, sondern ein hochdynamischer Balanceakt. Und der funktioniert nur, wenn genug Ressourcen vorhanden sind – sprich: Rückzugsorte, Futterplätze, Klos, Liegeplätze, Spielmöglichkeiten. 

Forschung zu Katzen ist nicht ganz so umfangreich wie zu Hunden oder Menschenaffen. Aber es gibt inzwischen viele Studien, vor allem durch Langzeitbeobachtungen von Hauskatzenpopulationen.

  1. „Social organization in the cat: A modern understanding“
    📖 Zur Studie auf PubMed Central
  2. „The Social Lives of Free-Ranging Cats“
    📖 Zur Studie auf PubMed Central

Was dabei immer wieder festgestellt wurde:

  • Katzen leben in lockeren, matrilinearen Gruppen. Das heißt: Weibchen bleiben oft zusammen, männliche Tiere wandern ab.
  • Innerhalb dieser Gruppen gibt es soziale Bindungen, aber keine festen Hierarchien.
  • Es gibt keine „Alpha-Katze“, die alles bestimmt. Stattdessen werden Konflikte eher vermieden.
  • Ressourcen spielen eine riesige Rolle. Wenn genug Futter, Schlafplätze, Toiletten etc. da sind, funktioniert das Zusammenleben meist gut.
  • Aggression ist für Katzen anstrengend. Sie vermeiden direkte Kämpfe, wann immer es geht, da die eigene körperliche Unversehrtheit an erster Stelle steht.
  • Katzen haben keine Demutsgeste, um sich einer anderen Katze zu unterwerfen.

Kurz gesagt: Katzen wollen vor allem eins – ihre Ruhe. Und dafür suchen sie sich Strategien, um Stress aus dem Weg zu gehen. Eine feste Rangordnung wäre da völlig kontraproduktiv.

Ja, es gibt Katzen, die selbstbewusster, durchsetzungsstärker sind. Genau wie es auch eher zurückhaltende, vorsichtige Katzen gibt. Aber das hat nichts mit einem festen Rang zu tun, sondern mit Persönlichkeit, Vorerfahrungen, Tagesform und Kontext. 

Eine Katze kann zum Beispiel bei der Fütterung sehr forsch auftreten, aber im Spiel mit anderen eher defensiv sein. Oder sie beansprucht gerne einen bestimmten Platz, lässt aber bei anderen Themen locker. Dieses Verhalten ändert sich auch im Laufe der Zeit oder je nach Gruppenkonstellation. 

Da wir gerade schon bei der Dominanztheorie sind: Auch bei Hunden hält sich der Glaube an Alpha-Tiere hartnäckig. Leider. Viele Erziehungsratgeber empfehlen noch immer, man müsse „die Rangordnung klarmachen“ oder „der Rudelführer sein“.

Wie oben schon erwähnt: Diese Ideen basieren auf überholten Erkenntnissen aus der Wolfsforschung. Hunde leben mit Menschen zusammen, nicht in Wolfsrudeln. Und sie lernen durch Verstärkung, nicht durch Unterwerfung. Dominanztraining führt oft zu Angst und Vertrauensverlust.

Und jetzt kommt das Absurde: Diese längst widerlegte Theorie ist nicht nur im Hundetraining hartnäckig geblieben, sondern wurde einfach auch noch auf Katzen übertragen. Obwohl deren Sozialverhalten komplett anders funktioniert! 

Ein ganz wichtiger Punkt, der in vielen dieser „Rangordnungs-Theorien“ völlig ignoriert wird: Das Sozialverhalten von Katzen hängt maßgeblich von ihren Erfahrungen in den ersten Lebenswochen und -monaten ab. 

Katzen, die während der sensiblen Phase (zwischen der 2. und 9. Lebenswoche) ausreichend positiven Kontakt zu Artgenossen und Menschen hatten, entwickeln in der Regel ein gutes soziales Repertoire. Durch die Erziehung der Mutter und das Interagieren der Kitten miteinander, lernen sie, wie man kommuniziert, Konflikte meidet oder löst, Nähe und Distanz reguliert – all das, was für ein harmonisches Miteinander nötig ist. 

Fehlt diese Sozialisierung, etwa bei Kitten aus schlechter Haltung, von Straßenkatzen oder bei sehr isoliert aufgewachsenen Tieren, kann das schwerwiegende Folgen haben. Diese Katzen kennen keine artgerechte Kommunikation, fühlen sich von anderen Katzen schnell bedroht, überfordert oder reagieren aggressiv oder ängstlich. Und das lässt sich später nur sehr begrenzt nachholen. 

Das bedeutet: Wenn zwei Katzen sich nicht vertragen, liegt das oft nicht daran, dass sie ihre „Rangfolge“ noch nicht geklärt haben, sondern daran, dass mindestens eine von beiden einfach keine gute soziale Grundlage hat. Und nein – das wird sich nicht durch „Klärung untereinander“ verbessern, sondern führt oft zu dauerhaften Spannungen oder Rückzug. 

Und selbst bei Katzen mit guter Sozialisierung gilt: Nicht jede Katze mag jede andere Katze. Genau wie wir Menschen entwickeln auch Katzen Sympathien – oder eben nicht. Und das ist okay. Es ist nicht immer jemand schuld, wenn es zwischen zwei Katzen einfach nicht passt. 

Wenn wir das akzeptieren, anstatt sie in irgendwelche Hierarchie-Modelle zu pressen, tun wir unseren Tieren einen riesigen Gefallen. 

Die Wahrheit ist: Wenn wir Katzen Konflikte „allein unter sich klären lassen“, dann überlassen wir sie psychischem Dauerstress. Und der hat Folgen. Für die Psyche – und für den Körper. 

Katzen zeigen Stress selten so, wie wir Menschen ihn wahrnehmen würden. Kein Weinen, kein Schreien, kein Jammern. Sie werden stiller. Ziehen sich zurück. Fressen schlechter. Putzen sich übermäßig oder gar nicht mehr. Oder werden aggressiv – nicht, weil sie böse sind, sondern weil sie keinen anderen Ausweg sehen. 

Wenn eine Katze sich ständig bedroht fühlt, weil sie z. B. regelmäßig beim Fressen bedrängt wird, keinen sicheren Rückzugsort hat oder immer wieder „abgefangen“ wird, wenn sie zur Toilette will, dann ist das kein harmloser Streit um Rang. Das ist Dauerstress. 

Und dieser Stress führt zu einer ständigen Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol und Adrenalin. Kurzfristig ist das okay – aber auf Dauer? Katastrophal! 

Chronischer Stress schwächt das Immunsystem. Das ist auch bei Menschen so, aber bei Katzen kann das ganz schnell richtig unangenehm werden. Einige Beispiele: 

  • Blasenentzündungen (idiopathische Zystitis): Sehr häufig stressbedingt, kann immer wieder auftreten. 
  • Magen-Darm-Probleme: Stress schlägt auf den Magen – auch bei Katzen. Durchfall, Erbrechen, Appetitlosigkeit. 
  • Fellprobleme: Übermäßiges Lecken, kahle Stellen, Hautreizungen – ebenfalls typische Stresssymptome. 
  • Aggressionen und Rückzug: Eine Katze, die sich bedroht fühlt, wird entweder zur „Angreiferin“ oder zieht sich völlig zurück. Beides sind Zeichen für massiven inneren Druck. 

Und das alles, weil wir glauben, dass „die das schon unter sich regeln“. 

Verhaltensprobleme wie Unsauberkeit, Kratzen an Möbeln, nächtliches Miauen oder scheinbar „grundlose“ Aggression sind oft ein Ausdruck von Frust, Angst oder Überforderung. Eine Katze, die ständig unter Strom steht, weil sie nicht weiß, ob sie in ihrer eigenen Wohnung sicher ist, wird über kurz oder lang auffälliges Verhalten zeigen. 

Und nein, das ist keine „Dominanz“. Das ist Verzweiflung. 

Katzen leben in einem ständigen Balanceakt: Nähe und Distanz, Kooperation und Rückzug. Wenn die Umgebung nicht stimmt – z. B. zu wenig Rückzugsmöglichkeiten, zu wenig Futterstellen, zu wenig Klos – und Bedürfnisse nicht erfüllt werden – z.B. Spielen, Jagen, geistige Stimulation – dann eskaliert dieser Balanceakt. 

Das führt zu einem sozialen Klima, das vergiftet ist: misstrauische Blicke, ständiges Belauern, kleine Attacken, viel zu viel Energie, die in Auseinandersetzungen fließt. Und dabei könnten sie einfach friedlich nebeneinander leben, wenn wir als Menschen ihnen die richtigen Bedingungen schaffen würden. 

Besonders tückisch: In vielen Fällen ist es nicht mal die „aggressivere“ Katze, die mir Sorgen macht – sondern die stille, die sich alles gefallen lässt. Die sich zurückzieht. Die nie „zickt“. Die, die einfach irgendwann kaum noch zu sehen ist. 

Sie ist vielleicht nicht die, die kratzt oder faucht – aber sie ist die, die leidet. Und zwar oft unbemerkt. Und das macht es so gefährlich, wenn wir Konflikte ignorieren oder verharmlosen, weil ja „kein Blut fließt“. 

Katzen sollten niemals einfach „zusammengeworfen“ werden. Eine durchdachte, behutsame Zusammenführung ist entscheidend. Richte am besten ein separates Willkommenszimmer für den Neuankömmling ein – mit allem, was dazu gehört: Futter- und Wassernapf, Katzentoilette, Kratzbaum, Schlaf- und Rückzugsplätze. So kann die neue Katze erst einmal in Ruhe ankommen. Erst dann folgt die langsame Annäherung – mit Bedacht, in kleinen Schritten und mit vielen positiven Erlebnissen, z. B. durch gleichzeitiges Füttern, Clickertraining oder gemeinsame Spielzeiten an einer Gittertür. Entscheidend ist, dies mit möglichst großem Abstand zu beginnen und erst allmählich die Abstände zu verringern.

Dauerhaft solltest Du die Rahmenbedingungen so gestalten, dass beide Katzen sich sicher fühlen können:

  • Schaffe genug Ressourcen: mehrere Futterstellen, Wassernäpfe, Schlafplätze, Kratzmöbel, Katzenklos.
  • Achte auf Rückzugsmöglichkeiten und Ausweichrouten, damit sich keine Katze bedrängt fühlt.
  • Achte auf die körperlichen, geistigen und emotionalen Bedürfnisse Deiner Katzen, so dass kein Frust und keine Langeweile aufkommt.
  • Lies die Körpersprache genau: Fixieren, Drohgebärden, plötzliches Putzen (als Stresssignal), geduckte Haltungen oder das Vermeiden von Kontakt können Anzeichen dafür sein, dass die Katze einen größeren Konflikt miteinander haben.
  • Greife sanft steuernd ein, wenn Du merkst, dass eine Katze immer wieder bedrängt oder verjagt wird. Das ist kein „normales Dominanzverhalten“, sondern ein Zeichen, dass hier etwas nicht passt.

Die Idee von Rangordnung und Dominanz mag auf den ersten Blick logisch erscheinen, ist aber für das Verständnis von Katzenverhalten nicht nur unbrauchbar, sondern sogar riskant. Sie verhindert, dass wir echte Probleme erkennen und angemessen handeln.

Wenn Du Katzen vergesellschaften willst oder in einer Mehrkatzenhaltung lebst, beobachte Deine Tiere aufmerksam, erkenne ihre individuellen Bedürfnisse und schaffe ein Umfeld, in dem jede Katze ihren Platz findet – ohne dass eine „oben“ und eine „unten“ stehen muss.

Denn echte Harmonie entsteht nicht durch Hierarchien, sondern durch Verständnis, Geduld und gute Rahmenbedingungen.

Und falls Dir doch mal jemand sagt: „Die müssen das unter sich regeln“ – dann schick ihnen gern diesen Artikel. 😉

Ich helfe Dir dabei, die Bedürfnisse Deiner Katzen besser zu verstehen und typische Konflikte frühzeitig zu erkennen. In meiner Verhaltensberatung analysiere ich das Verhalten Deiner Katzen, schaue mir eure Wohnsituation genau an und zeige Dir Schritt für Schritt, wie Du ein entspanntes und harmonisches Zusammenleben fördern kannst – individuell, einfühlsam und mit fundiertem Fachwissen.

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